Übersetzung: Yvonne Balzer Lektorat: Angelika Lueckert Leon (Musik) Man sagt, der Unterschied zwischen Ratte und Mensch ist, dass die Ratte, wenn sie an einem bestimmten Punkt des Labyrinths keinen Ausgang findet, nie dorthin zurückkehrt. Das heißt, irgendetwas in unserem Verstand macht es uns schwer, das zu lernen, was selbst weniger intelligenten Tieren klar ist, und lässt uns im Laufe unserer persönlichen und kollektiven Geschichte die gleichen Fehler immer wieder begehen. Wir Menschen haben diese eigenartige Neigung, mehrmals über denselben Stein zu stolpern.
Diese Geschichte ist die Geschichte eines wiederholten Fehlers. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts starb ein Großteil der gebärenden Frauen kurze Zeit später an einer Krankheit namens Wochenbettfieber, deren Ursprung völlig unbekannt war.
Weder war die Existenz von Bakterien bekannt, noch gab es ein näheres Verständnis über Infektionskrankheiten. Bis ein Geburtshelfer am Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, Ignacio Semmelweis, eine wichtige Entdeckung machte: Dort, wo er arbeitete, wurden Mütter auf zwei Stationen betreut. Aber auf der einen, die von Ärzten und Medizinstudenten betreut wurde, starb eine größere Anzahl an Frauen am Wochenbettfieber als auf der anderen, die von Hebammen betreut wurde.
Nach langem Beobachten und Nachdenken fiel ihm auf, dass der Schlüssel zu diesem Unterschied in der Tatsache liegen müsse, dass die Ärzte und Studenten sich nicht nur um Geburten kümmerten, sondern auch insbesondere um an Wochenbettfieber verstorbene Patienten. Das taten die Hebammen nicht. Er kam zu dem Schluss, dass sie mit ihren Händen irgendeine Art von Verseuchung von den Körpern im Autopsiesaal auf die anderen Patienten übertrugen und somit die Krankheit, sowie oft den Tod, verschuldeten.
Semmelweis schlug die Regelung vor, dass sich alle auf der Ärztestation die Hände mit chloriertem Wasser wuschen, bevor sie Patienten untersuchten. Dadurch gelang es ihm, die Sterblichkeitsrate drastisch zu senken. Seine Kollegen aber, aus Arroganz, persönlicher Abneigung oder einer ungesunden Vorliebe für andere Theorien zum Wochenbettfieber, lehnten seine Beobachtungen und Beweise ab und grenzten Semmelweis aus, der letztendlich in Armut starb.
Sie folgten wieder ihrer alten Gewohnheit, mit kontaminierten Händen zu arbeiten. Eine Praxis, die noch viele Jahre Bestand hatte und die viele Menschenleben kostete. Semmelweis' Neuerungen waren nur schwer zu begreifen.
Er sprach ein Problem an, dass mit bloßem Auge nicht sichtbar war; dass nicht nur einer für Ärzte unbequemen und ermüdenden Veränderung bedurfte, sondern dass sie auch erkennen ließ, dass sie eine Nachlässigkeit begangen hatten. Heute sind wir Ärzte anderen Arten der Kontamination ausgesetzt, die auf gewisse Art genauso unsichtbar und genauso gefährlich sind. Ich beziehe mich nicht auf die Verseuchung der Hände mit Keimen, sondern auf eine bestimmte Form der Kontamination des klinischen Urteils -- von der Auswertung, die ich als Arzt, gestützt auf meine Erfahrungen, meine Ausbildung und die Analyse der vorhandenen Beweise von der klinischen Situation anfertige, der ich mich gegenüber sehe, und den möglichen Arten, diese zum Wohl des Patienten anzugehen.
Der kontaminierte Erreger, auf den ich mich beziehe, ist das Marketing. Hauptsächlich das der Pharmaindustrie, aber auch das der Medizinproduktehersteller und der Lebensmittelindustrie. Marketing, das offensichtlich unsere klinischen Entscheidungen in Richtung seiner eigenen kommerziellen Interessen lenken will, die nicht unbedingt damit übereinstimmen und häufig auch nicht im Interesse der Patienten sind.
Die Pharmaindustrie investiert doppelt so viel in Werbung, in Anreize für Ärzte, wie in die Erforschung und Entwicklung neuer Behandlungsformen. Die Labore manipulieren und verschleiern nicht nur wichtige wissenschaftlichen Beweise, um ihre Umsätze zu sichern, wie uns bekannt ist, sondern sie kümmern sich auch noch um die Bildung der Ärzte im Zuge verschiedener Weiterbildungsmaßnahmen, die sie fördern und regulieren, mit der Hilfe von Meinungsbildnern: angesehenen Spezialisten, die gegen eine attraktive Vergütung und Prestige Werbevorträge vor ihren Kollegen halten, die angeblich bilden sollen, häufig mit Bildern und Inhalten, die vom Labor selbst geliefert wurden, und begleitet von einem großen Essen in einem sehr guten Hotel oder Restaurant. Bei den Experten handelt es sich meist um jene, die ein pharmazentrisches Konzept der physischen und psychischen Gesundheit vertreten, und die es befürworten, immer mehr Patienten mit immer mehr Medikamenten zu behandeln, mit dem Ziel immer kleinerer Veränderungen von Blutdruck, Blutzucker, Cholesterin, Knochendichte oder immer unwesentlicheren Abweichungen ihres Gemütszustands, ihrer schulischen Leistungen oder ihrer Fähigkeit, ruhig und konzentriert zu bleiben.
Der Einfluss der Branche drängt uns in Richtung Übermedikamentierung, Überdiagnostizierung, Überbehandlung und irrationale Mittelzuweisung. Neben der Geburt des "Edutainment", kulinarischer Spezialitäten und des Medizintourismus, investieren die Labore immense Summen in eine Kampagne personalisierter Überzeugungsarbeit über systematische Besuche der Ärzte durch Pharmareferenten, deren Mission, die sie professionell und effektiv verfolgen, es ist, die Ärzte bei der Rezeptausstellung zu beeinflussen, indem sie verzerrte Informationen liefern, die Vorteile übertrieben darstellen und Risiken der Medikamente aussparen; zusammen mit Werbegeschenken, Probepackungen, Einladungen, Sympathie, Schmeicheleien, Unterhaltungen, durch die häufig mit der Zeit der Eindruck einer freundschaftlichen oder pseudo- freundschaftlichen Beziehung entsteht. Dieser gigantische Marketingapparat der Pharmaindustrie ermöglicht hohe Verschreibungsquoten ihrer neuen Produkte, einschließlich der Großzahl an Produkten, die mit viel Tamtam auf den Markt gebracht werden, obwohl sie laut wissenschaftlicher Beweise keinen echten Fortschritt zu älteren Medikamenten darstellen, die ökonomischer und besser bekannt sind.
Die Werbung erstellt ein Image eines neuen Medikaments mit Vorteilen, die häufig nicht existent oder einfach nicht relevant sind. Und beachten Sie, dass uns bei neuen Medikamenten die Risiken am wenigsten bekannt sind. Wenn die Werbung funktioniert, also Enthusiasmus entfacht und die Vorsicht sowie die nötige gesunde Skepsis vergessen lässt, könnte dieser Fehler katastrophale Ausmaße annehmen.
Dieses Medikament, in den USA als Vioxx vermarktet und in Chile als Ceoxx, ist ein Entzündungshemmer, der sich Dank starker Marketingarbeit und des kollektiven Enthusiasmus der Ärzte zu Beginn des zweiten Jahrtausends zu einem Verkaufsschlager entwickelte. Während der Zeit, in der sich das Medikament auf dem Markt hielt, verursachte es ca. 140 000 Herzinfarkte und Hirnschläge, allein in den USA.
Es kostete 55 000 Amerikaner das Leben. Noch viele mehr leben mit Folgeschäden. Das sind 14-mal so viele Tote wie beim Attentat auf das World Trade Center.
Das Hersteller-Labor schuf nicht nur tausende verschiedene Anreize, dieses Medikament zu nutzen; es verschleierte auch jene Daten, die die davon ausgehende Gefahr bewiesen. Dies ist ein Musterbeispiel für die Ausmaße dieser Katastrophe, aber es gibt eine lange Liste ähnlicher Fälle. Genau wie die Keime an den Händen der Ärzte auf der Geburtsstation in Wien wird die infektiöse Präsenz des Marketings in unserer eigenen Entscheidungsfindung nicht auf den ersten Blick sichtbar, zumindest nicht für uns selbst.
Wir sind blind für unbewusste, unterschwellige Effekte von höchst ausgeklügelten Propaganda- und Überzeugungsstrategien. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass diese Strategien alle anderen beeinflussen können, aber nicht uns selbst. Diese Phänomen bezeichnet man als "Illusion der Unverwundbarkeit".
Ein einfaches Beispiel: Wir alle, vor allem Politiker, wissen, dass die Anzahl der Plakate eines Kandidaten in seinem Bezirk das Abstimmungsergebnis direkt beeinflusst. Aber wie viele von Ihnen fühlen sich persönlich von diesen Plakaten beeinflusst, wenn sie Ihre Entscheidung treffen? Im Fall des Arztberufs wissen wir aus Umfragen, dass Ärzte generell glauben, dass das Marketing die Rezeptausstellung ihrer Kollegen beeinflussen könne, aber nicht ihre eigene.
Trotzdem gibt es Beweise dafür, dass sich sowohl die Annahmen der Ärzte über Medikamente als auch ihre Verschreibungen häufig mehr auf Propaganda stützen als auf wissenschaftliche Daten -- Beweise, die nur das Offensichtliche bestätigen, denn wäre die Werbung nicht effektiv, würde die Pharmaindustrie nicht mehr solche Unmengen an Geld in die Werbung investieren. Wir sprechen hier von einem Phänomen der unbewussten Voreingenommenheit im Verstand des Arztes, im Unterschied zu Fällen der bewussten und vorsätzlichen Korruption, die es bekanntermaßen auch gibt, aber in sehr begrenztem Umfang. Die Geschenke der Industrie zeigen ihre Wirkung häufig nicht weil sie den Arzt bestechen, sondern weil sie ihn unauffällig beeinflussen.
Die Haupteigenschaft dieser Geschenke ist laut dem Anthropologen und Ex-Pharmareferenten Michael Oldani, dass sie der Bestechung dienen, was aber nicht wahrgenommen wird. Sie aktivieren eine implizite, aber grundlegende gesellschaftliche Norm, die der Gegenseitigkeit, die uns helfen und zur Hand gehen lässt, die uns geholfen und uns die Hand gereicht haben. Zu den harten Fakten, die das beweisen, gehört z.
B. dass Ärzte, die mehr Kontakt zu Pharmareferenten haben, tendenziell mehr Medikamente und neuere Medikamente verschreiben. Sie sind eher geneigt, ein Medikament ohne klinische Indikation zu verschreiben, wenn der Patient danach verlangt.
Sie verschreiben eher teurere Medikamente, selbst wenn diese gegenüber anderen, preiswerteren keinen Vorteil bieten. Wenn sich eine Person dem Marketing aussetzt, etwa für eine Deo- oder Schuhmarke, übernimmt sie mit ihrer Entscheidung die daraus resultierenden Kosten und Risiken. Setzt sich ein Arzt dem Einfluss des Marketing und den Anreizen der Branchen aus, die Interesse an seinen klinischen Entscheidungen haben, tragen die Patienten die Kosten und Risiken, ohne eine Wahl zu haben.
Und wir sprechen hier von hohen Kosten und Risiken, die viel wichtiger sind als die Folgen der Deo- oder Schuhauswahl. Die westliche wissenschaftlich begründete Medizin stellt einen der spektakulärsten Fortschritte dar. Dank ihr haben wir von außergewöhnlichen Veränderungen profitiert, was unsere Lebensqualität und -erwartung angeht.
Die Pharmaindustrie hat in der jüngeren Geschichte, trotz ihrer tragenden Rolle in bedeutenden Fällen wissenschaftlichen und kommerziellen Fehlverhaltens, grundlegende Beiträge zum Fortschritt der Medizin geleistet und wird es auch weiterhin tun. Es gibt keine nützlichen Alternativen zu den Prinzipien der Wissenschaft für die Weiterentwicklung der Medizin. Wir brauchen keine Alternativen dazu, nur eine verbesserte wissenschaftliche Medizin, die vorsichtiger, transparenter und unabhängiger ist.
Die meisten Ärzte sind ehrlich, verantwortungsvoll und kompetent und sorgen sich wirklich um das Wohlergehen ihrer Patienten. Doch es gibt ein Problem, für das wir noch keine gut durchdachte und wirkungsvolle Lösung haben. Wir von "Médicos Sin Marca" (Ärzte ohne Marken) glauben, wie viele ähnliche Organisationen auf der Welt, dass es jetzt soweit ist: Es ist Zeit, die Tradition der Leugnung unter Medizinern zu besiegen sowie die der Resignation auf Seiten der Patienten.
Es ist Zeit, eine neue ethische, kulturelle und rechtliche Norm anzuregen, um das medizinische Urteil wahrhaftig zu desinfizieren. Es wäre heute keinem der Anwesenden eingefallen, sich hier im Saal eine Zigarette anzuzünden. Das verdanken wir einer ethischen, kulturellen und rechtlichen Norm, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre.
Eine Norm, die von jenen durchgesetzt wurde, die sich nicht entmutigen ließen. Ich möchte sie bitten, mit Ihren Ärzten über dieses Problem zu sprechen. Teilen Sie ihnen Ihre Sorgen mit; stellen Sie ihnen Fragen, ohne Angst, sie zu belästigen.
Belästigen Sie sie, falls notwendig. Fragen Sie nach Beweisen für die Indikation. Fragen Sie nach Alternativen, die preiswerter, weniger modern oder nicht pharmazeutischer Natur sind.
Und fragen Sie in aller Ruhe nach Interessenskonflikten, denn wir alle haben ein Recht, von diesen zu erfahren. Vertrauen Sie Ihren Ärzten, aber vertrauen Sie auch darauf, dass sie, genau wie Sie selbst, Teil eines Prozesses sein können, der unsere Denkweise, unsere Haltung und unser Verhalten verändert. Die Veränderungen, die stattfinden müssen, werden sich nicht von allein einstellen.
Danke.