2022 rechnete fast die Hälfte aller Amerikaner mit einem baldigen Bürgerkrieg. Heute glaubt einer von fünf Menschen weltweit, dass politische Gewalt gerechtfertigt sei. Immer mehr Menschen sehen sich in gegnerischen Teams.
Dafür gibt es viele Gründe, aber besonders oft beschuldigt wird Social Media. Es macht uns extremer, weniger empathisch, stachelt uns an oder zieht uns in die Doom-Scrolling-Spirale, verursacht Stress und Depressionen. Es fühlt sich an, als müssten wir einfach mal wieder raus und in die reale Welt flüchten.
Neue Forschungen zeigen, dass wir den Grund dafür möglicherweise falsch interpretiert haben. Social Media beeinflusst vielleicht wirklich unsere Denkweise - aber nicht so, wie du meinst. Der Mythos der Filter Bubble Von Filter Bubbles hast du wahrscheinlich schon gehört: Algorithmen zeigen dir genau das, was du sehen willst oder was sie denken dass dir gefällt.
Du siehst nur Informationen, die sich mit deiner Sicht decken, während abweichende Meinungen und Informationen rausgefiltert werden. Da die Inhalte deiner Weltanschauung entsprechen, erscheinen dir extreme und vergiftete Meinungen darin plötzlich weniger extrem. Du bist in einer Bubble gefangen und deine Weltsicht wird enger und radikaler.
Aber stimmt das? Extreme Filter Bubbles scheinen eher selten zu sein. Studien dazu was sich Menschen online tatsächlich anschauen oder von Suchmaschinen angezeigt bekommen konnten kaum Belege dafür finden, dass du ideologisch isoliert bist.
Im Gegenteil: Online wirst du ständig mit fremden Meinungen und Weltbildern konfrontiert. Am stärksten ist die ideologische Isolation tatsächlich im echten Leben, in der echten Welt, mit echten Menschen. Dein Austausch mit Freunden, Familie, Arbeitskollegen und Nachbarn ist sehr viel weniger divers als in deiner Online-Bubble.
Die Filter Bubble gibt’s im realen Leben, nicht online. Ok Stopp. Mit Online-Bubbles wurde ständig erklärt, wieso wir uns in den vergangenen 20 Jahren alle immer mehr hassen.
Wenn das nicht so ist, sollte uns das Internet dann nicht offener, verständnisvoller und empathischer machen? Leider ist dein Gehirn dumm. Dein Gehirn ist dumm Das Gehirn hat sich nicht entwickelt, um eine objektive Realität zu verstehen, sondern um soziale Strukturen zu formen.
Unsere Vorfahren brauchten sich um zu überleben, also mussten unsere Gehirne dafür sorgen, dass sie zusammenarbeiteten. Deshalb fühlt sich soziale Isolation so schlimm an - weil sie lebensgefährlich war. Stämme, die zusammenarbeiteten, überlebten, gespaltene starben.
Über Jahrtausende funktionierten Gemeinschaften so: Du mochtest deinen Nachbarn vielleicht nicht besonders, ihr wart aber für dieselbe Sportmannschaft oder seid euch im Tempel begegnet. Die Leute vom anderen Dorf waren für euch beide Idioten. Durch blosse Nähe entstanden Gemeinsamkeiten, welche unterschiedliche Weltanschauungen überbrückten, und verhinderten, dass ihr euch gegenseitig umgebracht habt.
Und wahrscheinlich unterschieden sich auch eure Weltanschauungen gar nicht so stark, weil sie von der gleichen örtlichen Kultur geprägt war. Als unsere Gehirne sich entwickelten, hat das gereicht. Wer in der Nähe war, war uns ähnlich.
Und wir mochten, was uns ähnlich war - so konnten wir trotz Unterschieden zusammenzuarbeiten. Als aus kleinen Sippen Dörfer und Städte, aus Stämmen Königreiche und Nationen wurden, mussten sich Gehirne und Gemeinschaften an mehr verschiedene Nachbarn anpassen. Wir begannen, uns auf Dorfplätzen oder in Universitäten zu treffen, um zu diskutieren und uns anzubrüllen - aber im Grossen und Ganzen waren Gemeinschaften immer noch recht isoliert.
Wir waren uns immer noch ziemlich ähnlich und verbündeten uns mit Menschen um uns herum. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten sind nicht per se schlecht. Spannungen können wunderbare neue Dinge hervorbringen.
Werte, Normen und Tabus entwickeln sich ständig weiter, und was auch immer wir heute für normal halten, wird es in Zukunft nicht mehr sein. Wir brauchen aber auch eine Art sozialen Kleber, denn unserem Gehirn ist die Meta-Ebene der Menschheit egal. Es will nur in einem Stamm sicher sein.
Und dann entstand vor 20 Jahren etwas wahrhaft Neues, das unsere Gehirne komplett überfuhr: Das Social-Media-Internet, der digitale Dorfplatz. Wage es nicht, mir zu widersprechen - Soziale Sortierung Kurzgesagt: Unsere Gehirne können die ganzen Meinungsverschiedenheiten, die uns in sozialen Netzwerken begegnet, gar nicht verarbeiten. Genau die Mechanismen, die es unseren Vorfahren ermöglicht haben, zusammenzuarbeiten, bringen uns jetzt völlig aus dem Konzept.
Ob du willst oder nicht, dein Gehirn sortiert Menschen nach Weltanschauungen und Meinungen. Das geht weiter als Stammesdenken. Die Forschung nennt diesen Vorgang soziale Sortierung.
Auf dem digitalen Dorfplatz begegnen dir Menschen, die Meinungen oder Informationen verbreiten, die deiner Weltsicht widersprechen. Anders als dein Nachbar feiern sie aber nicht die gleiche Sportmannschaft wie du. Es fehlt der soziale Kleber, den dein Gehirn braucht, damit ihr euch arrangiert.
Für dein Gehirn wird die Meinungsverschiedenheit zu einem zentralen Teil der Identität der anderen. Und deshalb ist es weniger wahrscheinlich, dass du ihre Ansichten in Zukunft überhaupt ernsthaft beachten wirst. Hörst du Schlechtes über sie, wird dein Gehirn das viel eher unkritisch glauben.
Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die deine Weltanschauung teilen und dir sogar ähnlicher sind als viele Menschen im echten Leben. Dein Gehirn mag diese Menschen sehr und rückt euch richtig nahe zusammen. Menschen, die gleich denken wie du, müssen gute Menschen sein, du bist schliesslich gut und deine sozialen Kreise sind gut.
Dein Gehirn wird die Meinungen dieser Menschen also eher glauben, und wenn du etwas Schlechtes über sie hörst, wird es das eher verwerfen, ohne es zu hinterfragen. Social Media verschlimmert das noch, weil es dich so lange online behalten will wie möglich. Und die beste Emotion dafür ist leider: Wut.
Je wütender du wirst, umso wahrscheinlicher ist es, dass du Dinge teilst und dich beteiligst, und das führt dazu, dass Social Media die extremsten und kontroversesten Meinungen verstärkt. Es ist nicht nur so optimiert, dass es uns verschiedene Meinungen anzeigt, sondern die grössten Meinungsverschiedenheiten. Und weil dein Gehirn dumm ist und Menschen in Teams sortiert, ordnet es die schlimmsten Meinungen immer dem anderen Team zu.
Auffällig und neu an dieser Online-Polarisation ist, dass es die Aspekte, die uns zu Individuen machen, verdichtet - wie wir leben, die Serien, die wir uns anschauen, unsere Religion, unser Stil und so weiter. Dadurch scheint es, als gehörten all diese Dinge zu gegensätzlichen, sich ausschließenden Identitäten. Das vereinfacht und verzerrt Meinungsverschiedenheiten über die Gesellschaft, und es wirkt, als würden Menschen vom gegnerischen Lager die Welt absichtlich schlechter machen wollen.
Als wären sie böse, und mit Rationalität oder Diskussionen nicht zu überzeugen. Und weil du natürlich auf der richtigen Seite stehst, ist es schwieriger zu begreifen, dass das gegnerische Lager dich als genauso als böse ansieht. Auf gesellschaftlicher Ebene zerstört das den sozialen Kleber - die Grundlage unserer Demokratien.
Wie können wir mit Nachbarn zusammenleben die wir für böse halten? Besonders stark ist das Problem in den USA, wo das Zweiparteiensystem es noch einfacher macht, Menschen in Teams einzuteilen - schlechte Meinungen über die andere Partei sind besonders hoch. Okay - was können wir daraus lernen?
Können wir etwas tun? Eine positivere Sicht - unsere Meinung Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, was Social Media mit unseren Gehirnen anstellt. Dich selbst zu ändern ist einfacher, als die Welt zu ändern; beobachte dich und hinterfrage, weshalb du Dinge glaubst, die du glaubst, und ob du Informationen nur annimmst oder verwirfst, weil sie von einer bestimmten Person kommen.
Das Internet hat gute und schlechte Seiten, und so, wie wir uns an das Leben in Städten statt Stämmen anpassen mussten, gilt das für das Informationszeitalter, in dem wir mit Milliarden Menschen verbunden sind. Evolution ist dafür zu langsam, also müssen wir Modelle finden, die mit unseren dummen Gehirnen funktionieren. Was scheinbar ganz gut funktionierte, war das Internet vor Social Media.
Manche erinnern sich noch an Bulletinboards, Foren und Blogs. Die unterschieden sich vor allem auf zwei Arten: Zum einen gab es keine Algorithmen, die dich online halten wollten - irgendwann hattest du genug Internet für den Tag, auch wenn das heute unvorstellbar klingt. Aber wichtiger: Das Internet war viel fragmentierter.
Es gab tausende verschiedene Gemeinschaften, wie kleine Dörfer, die sich um gleiche Meinungen und Interessen herum bildeten. Diese Gemeinschaften waren aber quasi durch digitale Flüsse und Berge getrennt. Diese Gemeinschaften funktionieren, weil sie das echte Leben besser abbildeten als Social Media: Jedes Dorf hatte eigene Kulturen und Regeln.
Vielleicht mochte ein Dorf derben Humor und wenig Moderation, während ein anderes strenge Regeln hatte und schnell sanktionierte. Brach man diese Gesetze, wurde man ausgeschlossen. Oder man zog in ein anderes Dorf, das einem besser gefiehl.
Anstatt uns alle am gleichen Ort zu treffen und unsere Gehirne auf einem einzigen Dorfplatz zu überfordern, der uns verrückt macht, könnte es eine einfache Lösung für weniger soziale Sortierung geben: Zurück zu kleineren Online-Gemeinschaften. Denn was unsere blöden Gehirne nicht checken ist, dass wir alle zum selben Team gehören: die Menschheit, die auf einem nassen Felsen durchs All flitzt, in einem Universum, dem wir egal sind. Wir sitzen alle im gleichen Boot - aber solange unsere Gehirne das nicht verstehen können, ist ein bisschen Abgrenzung vielleicht ganz gut.